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Mythos als Strategie

Der Mythos wird hochgehalten und immer wieder hervorgehoben: Unangenehme oder gar störende Raumakustik entstehe durch Reflexionen an schallharten Wänden und Decken. Vollflächig bedämpfende Decken seien das wirksame Gegenmittel.

Zum Beispiel in Klassenräumen, in Besprechungsräumen, in Seminarräumen wird die großzügige Absorption von Schall als das beste Mittel hochgehalten, um den störenden Nachhall in den Griff zu bekommen. Und: Kurze Nachhallzeiten gelten allgemein und laut Richtlinie als günstig, um eine gute Sprachverständlichkeit sicherzustellen.

Aber niemand spricht vom störenden Potenzial des Kantenvolumens.

Ratgeber im Internet oder über das Internet verbreitete Broschüren enthalten solche „Weisheiten“ über den Zusammenhang zwischen den Nachhallzeiten und der Schallabsorption. Allein der physikalischen Überprüfung halten solche Behauptungen nicht stand – und bewähren sich noch nicht einmal in der Praxis.

Dennoch: Ein Beispiel ist ausgerechnet der DGUV, der „Spitzenverband der Deutschen Unfallversicherer“, der in seiner Broschüre „Klasse(n) – Räume für Schulen“ solche „Tipps“ und Hinweise verbreitet – und dabei auch noch ausdrücklich auf DIN 18041 verweist.

Doch…

woher rührt dieser Mythos?

Etwa von der Sabine’schen Formel? Jene Formel, die ebenfalls vom DGUV benannt und hervorgehoben wird!? Eine Formel, die ausdrücklich gerade für solche „kleinen“ Räume gar nicht geeignet ist.

Wallace C. Sabine jedoch konnte dereinst die einzelnen Reflexionen (noch) nicht auseinanderhalten. So hatte Sabine die raumakustischen Probleme nicht hinreichend detailliert beschreiben und keine abschließenden Lösungsvorschläge anbieten können. – Aber Sabine war ein Pionier seiner Zeit! Und keinesfalls Bequemlichkeit stand ihm im Wege, sondern sein verfrühter Tod.

Schon 1900 – aber erst recht in seinen weiteren Publikationen ab 1906 – hatte Wallace C. Sabine auf Probleme hingewiesen, die Größe und Form eines Raumes betreffend, insbesondere aber die höheren Frequenzen im Zusammenhang mit zunehmender Absorption. Probleme also, von denen er wiederholt und mit immer neue Argumenten und Falldarstellungen schrieb, die seine vereinfachende Formel nicht erfassen kann.

W. C. Sabine ist unschuldig

Wallace C. Sabine mag also die Quelle des Missverständnisses sein. Die Wurzel des Übels hingegen ist weder die Person Wallace C. Sabine, noch sind es seine Publikationen.

Die so genannte und bis heute gebräuchliche „Sabine’sche Formel“ ist eine Grundlage, die Wallace C. Sabine im Jahre 1900 über seine Publikation im ‚The American Architect‘ unter dem Titel ‚Reverberation‘ veröffentlicht hatte. Als solche – nämlich als „Träger“ oder Ankerpunkt eines umfassenderen mathematischen Ausdrucks – wird uns die Sabine’sche Formel gewiss erhalten bleiben. In ihrer jetzigen Form und Handhabung jedoch führt sie zu unbefriedigenden und wenig alltagstauglichen Resultaten.

‚Reverberation‘ kann nicht übersetzt werden mit „Nachhall“. Das, was man über RT60 als das Abklingens aller Reflexionen um 60 dB erfasst und als „Nachhallzeit“ bezeichnet, ist in Wahrheit das Abklingen aller denkbaren Formen des Rückwurfs von Schallenergie an jedweden Formen und Gegenständen in einem Raum.

dem Mythos entgegentreten

‚Reverberation‘ darf mit „Nachhall“ nicht verwechselt werden. Genau dort, wo das relevant ist, macht man aber genau das: in der Akustik.

Man darf mir entgegen halten, ich müsse eben den gebräuchlichen Aussagewert bestimmter Worte anerkennen. Allein, es erscheint mir eher so, dass gerade dieser Wortgebrauch Missverständnisse fördert. Im besten Falle: nur Missverständnisse…

‚Reverberation‘ mit „Schallrückwürfen“ zu übersetzen, klänge ungelenk. Und so ist ‚reverberation‘ vielleicht eines jener Worte, die man besser nicht übersetzt. Das ist, was bleibt, wenn man sich mit Wallace C. Sabine etwas näher auseinandersetzt.

Und bitte: Wo ist das Problem? In der englischen Sprache gibt es Wörter wie „Kindergarten“ und „Zeitgeist“. Weil sie sich nicht in ein oder zwei Worten schlüssig ins Englische übersetzen lassen, übernimmt man sie einfach.

Tafelfront und Seitenwand eines Beispielraumes: vorher / nachher; durch Ausstattung mit ReFlx®-System passiv inklusionstauglich

Außerdem: Wenn wir doch längst auch gelernt haben, nicht mehr von der Widerstandsfähigkeit zu sprechen, weil das etwas anderes sei als Resilienz, so kann man ja in der Wissenschaft und Branche der Raumakustik auch anerkennen, dass man ‚reverberation‘ nicht „einfach“ übersetzen kann.

Möge dann aus „Reverberation“ nur ja nicht neudeutsch „Rewerberation“ werden – nur um das Wort auf Teufel komm‘ raus „einzudeutschen“. Wir waren auch jahrzehntelang gut damit klar gekommen, wenn wir mal einen wertvollen „Tip“ bekommen hatten. … bis es ein „Tipp“ werden musste. Den Wert hilfreicher Hinweise hat das nicht gesteigert.

‚reverberation‘ – besser nicht übersetzen

Zum Glück schlägt ein solcher Aktionismus nicht immer zu. Die „Garderobe“ ist noch immer, was sie seit eh & je ist…

Kann man nicht also auch „Reverberation“ als stehenden Begriff und unübersetzbar akzeptieren? Und kann man nicht akzeptieren, dass folglich die „Nachhallzeiten“ nicht das sind, als was sie gelesen werden?