Wallace C. Sabine umschrieb die Schallrückwürfe in einem Raum als „eine Vielzahl von Klangereignissen, die den gesamten Raum erfüllen und ummöglich auf ihre verschiedenen Reflexionen hin analysiert werden können“. (Sabine, Wallace C.: Reverberation; The American Architect, 1900 – Seite 9).
Ich mache bewusst einen Bogen darum, ‚reverberation‘ mit „Nachhall“ zu übersetzen. Denn gemeint ist im Kontext der Darstellungen das gesamte Widerhallen, das in einem Raum zustande kommt. Gemeint sind alle Formen von Schallrückwürfen, die sich in einem Raum ereignen.
Tatsächlicher Nachhall – also nicht das, was die Physik als Nachhall auffasst – umfasst klare und in einer solchen Weise „gerichtete“ Reflexionen an Flächen, dass sie ein mehr oder minder unverändertes Zweit- oder Vielfachsignal darstellen. Je nach deren zeitlicher Verzögerung wird das Ursprungssignal günstig verstärkt oder etwaig nachteilig überlagert. – Nachhall ist sozusagen „der kleine Bruder“ des Echos.
„Nachhall“ ist NICHT = Nachhall
Grob kann man sich drei Kategorien der Schallereignisse in einem Raum vor Augen führen. Eben jenen tastächlichen „Nachhall“, dann die Diffusion – und schließlich jenen Störschall, der in den Raumkanten entsteht.
Was man heutzutage als „Nachhallzeit“ misst, ist die Abklingdauer des GESAMTSCHALLEREIGNISSES in einem Raum. Als wiederum EIN Teil dieses Gesamtschallereignisses kann aber schon die Diffusion – das heißt die ungerichtete Reflexion von Schallenergie – nicht mehr dem Nachhall zugerechnet werden. Denn die Diffusion kodiert, trotz ihres Gehaltes an SchallENERGIE, keine klare SchallINFORMATION.
Besonders aber muss man nun die Raumkanten hervorheben. Denn nur auf den ersten Blick stellen die Rückwürfe von Schallenergie aus den Raumkanten und Raumecken heraus ebenfalls Diffusion dar.
Im Wesentlichen durch zwei Aspekte jedoch unterscheidet sich der Raumkanteneffekt von der Diffusion:
ERSTENS. Die Schallenergie wird von den Raumkanten nicht einfach gestreut reflektiert, sondern vielmehr wie in einem Trichter eingesammelt – und sogar nicht allein addiert, sondern potenziert, das heißt: exponentiell verstärkt.
Raumkante entstören…
ZWEITENS. In der Raumkante treten Effekte der Frequenzmodulation und der untypischen Rythmisierung auf, so dass eigenständige Klangmuster auftreten, die vom ursprünglichen Informationsgehalt des Schalls erheblich abweichen.
… und Raumkante zugleich nutzbar machen

Nun tritt für die so genannt „kleinen“ Räume (das sind solche Räume mit einen Volumen bis 250 Kubikmetern) noch das zusätzliche Problem auf, dass der Einfluss der Raumkanten und -ecken umso dominanter auf den Gesamtschall einwirkt, je KLEINER der Raum ist. … so dass die so genannte „Nachhallzeit“ einen umso geringeren Aussagewert besitzt, je kleiner ein Raum ist.
Um sich diesen Zusammenhang einmal geometrisch vor Augen zu führen, bedarf es keinerlei komplexer mathematischer Berechnungen: Die Fähigkeit, Flächen und Volumina im rechtwinkligen Kubus zu berechnen reicht aus, um in Zahlenwerten zu veranschaulichen, wie das Verhältnis der Raumkantenstrecken zu den Flächen innerhalb eines Raumes immer ungünstiger wird, je kleiner der Raum ist.
Bereits im Jahre 1900, als Wallace C. Sabine jene heute so genannte „Sabine’sche Formel“ im The American Architect mittels seiner schlicht betitelten Publikation „Widerhall“ öffentlich gemacht hatte, hatte er zugleich auch seine Zweifel daran zum Ausdruck gebracht und gut begründet, ob diese Berechnungsmethode der Praxis hinreichend standhalten würde.
Es besteht kein Zweifel, dass Sabine auch Unheilvolles niedergeschrieben hat, das bis heute verheerend nachwirkt. So etwa, dass „die Wirksamkeit eines Absorbers unabhängig von seiner Position“ sei, wenn das Problem der Widerhall sei. Das stimmt nicht so ganz – und man weiß das heute auch. So ist seit Langem und umfassend bekannt, dass eine gleiche „Menge“ Absorber, in den Raumkanten positioniert, den Nachhall stärker senkt als an irgendeiner anderen Stelle im Raum. Oder man weiß längst, dass eine schwache Bedämpfung in den Raumkanten aber den Raum bereits spürbar entstört – was mit Absorption an beliebigen anderen Stellen im Raum nicht gelingt.
Aber bei der Bedämpfung gerade kleiner Räume findet das keine Berücksichtigung.
Absorption verschlingt die Obertöne
Andererseits hatte Wallace C. Sabine bereits in dieser Schrift – und dann in späteren Publikationen mit anderen Fakten untermauert wiederholt – darauf hingewiesen, dass und in wie starker Relation die Obertöne durch die Absorption in Mitleidenschaft gezogen wurden.
(Beitragsbild reproduktiv entnommen: Sabine, Wallace C.: Collected Papers on Acoustics; Forgotten Books 2012)